Autorität und Empowerment

Blutige Niederschlagung des Pullman-Streiks
Blutige Niederschlagung des Pullman-Streiks

Abhängigkeit durch "Fürsorgliche Belagerung"

In einem Seminar zum Thema Empowerment stellte mir ein Teilnehmer die Frage, ob Führungskräfte nicht auch eine Fürsorgepflicht gegenüber ihren MitarbeiterInnen hätten. Als Diskussionsanregung erzählte ich der Gruppe die Geschichte des Pullman-Streiks. Bis zum großen Streik im Mai 1894, der sich ausgehend von den Pullman-Werken südlich von Chicago auf die ganze Nation ausbreitete, hatte George Pullman als fürsorglicher Unternehmer gegolten. Er war ein Wohlfahrtskapitalist, der für seine Arbeiter über 12000 komfortable Wohnungen und Häuser mit Sanitäreinrichtungen und Gasanschluss baute, während viele amerikanische Arbeiter in schäbigsten Unterkünften hausen mussten. Ihren Kindern standen Schulen zur Verfügung, er ließ für sie ein Theater und eine Kirche erbauen und einen Park errichten.

 

Bis zum Zeitpunkt einer Rezession, in der er Lohnkürzungen verfügte, war das Einkommen seiner Arbeiter auch deutlich höher als das vergleichbarer Unternehmen. Vor allem die zahlreichen Einwanderer aus Europa, die bei Pullman oft nach mehreren Stationen, in denen sie unter haarsträubenden sozialen und hygienischen Bedingungen um ihr Leben und das ihrer Familien kämpfen mussten, Arbeit fanden, sahen in Pullman einen materiellen und emotionalen Beschützer und schätzten das wohlgeordnete Leben in seiner Stadt. Dass ein derartiger Streik also gerade von dieser Stadt ausging, scheint zunächst eine Ironie der Geschichte zu sein.

In seinem hervorragenden Buch über Autorität beschreibt der amerikanische Soziologe Richard Sennett aber auch die Kehrseite, die dieser Wohlfahrtskapitalismus für die Arbeiter hatte. Sie waren in völliger Abhängigkeit des sich als Vater einer großen Familie sehenden George Mortimer Pullman. Die Häuser, die sie bewohnten, durften sie nicht selbst besitzen. Sie waren in eigentumsloser Unfreiheit, die ihnen umso mehr bewusst wurde, je weniger sie um das tägliche Überleben kämpfen mussten. Der Verlust des Arbeitsplatzes bedeutete für einen Arbeiter zugleich den Verlust der Wohnung, bedeutete, dass die Kinder die Schulen wechseln mussten und die gesamte Familie ihre sozialen Kontakte verlor. Hinzu kam, dass Pullman aufgrund seines Paternalismus von den Arbeitern als persönlich verantwortlich gesehen wurde für jeden Fehler seiner Führungskräfte, für jede Nachfrageschwankung, die Kündigungen notwendig machte, für alles, was irgendwie in seinem Unternehmen passierte.

Pullman führte sein Unternehmen in paternalistisch-autoritärer und fürsorglicher Form. Dies war zu Beginn eines Arbeitsverhältnisses offenbar für viele Arbeiter durchaus hilfreich und bot ihnen jene Sicherheit, die sie nach Zeiten dramatischer Existenzängste dringend brauchten. Mit der Zeit änderten sich jedoch deren Bedürfnisse. Da Pullman sein Verhalten aber beibehielt, sahen sie sich durch ihn in ihrer Entwicklung, ihren Bedürfnissen nach Eigentum, nach Freiheit und Verantwortung für ihr eigenes Leben stark eingeschränkt.

Eine Sozialreformerin des frühen 20. Jahrhunderts, Jane Addams, verglich Pullman mit Shakespeares König Lear. Lear wollte seinen drei Töchtern sein Königreich übergeben und verlangte von diesen für dieses materielle Geschenk die Bezeugung von Liebe als Gegenleistung. Als sich gerade seine Lieblingstochter gegen dieses Ansinnen auflehnt, wird er rasend und blind vor Wut und verstößt sie. Er sieht es als sein väterliches und/oder königliches Recht anderen vorzuschreiben, was diese zu denken und wie sie genau zu handeln haben.

Pullman handelte als Führungskraft wie Lear. Solange seine Arbeiter ähnlich wie Lears Töchter sowohl Fürsorge als auch die damit verbundene Kontrolle dankbar und bedingungslos annehmen, funktioniert das System. Um mit dem Titel eines Romans von Heinrich Böll, in dem dieser die gesellschaftlichen Auswirkungen von überbordender Kontrolle beschrieb, zu sprechen:

Auch die „Fürsorgliche Belagerung“ ist eine Belagerung. Gegen Belagerung wird es aber Widerstände geben. Sobald Lears Tochter und Pullmans Arbeiter selbständig werden und für sich selbst entscheiden wollen, sind die „Väter“ hoffnungslos mit der Situation überfordert und reagieren mit völlig unangemessener Gewalt. Sie verstoßen ihre Tochter oder schlagen die Streiks blutig nieder und entlassen ihre Arbeiter. Sie rechtfertigen ihr Verhalten damit, dass sie deutlich mehr als das Notwendige für jene tun, die sie als Untergebene betrachten. Lear ist bereit, vorzeitig sein Königreich an seine Töchter zu übergeben, Pullman baut komfortable Häuser für seine Arbeiter. Empowerment benötigt aber nicht einseitige Fürsorge, sondern beidseitige Fairness auf Augenhöhe und das Bewusstsein, dass Mitarbeiterführung ein begrenztes Spielfeld hat.