Hierarchische Unternehmensstrukturen und ihre Alternativen

Damit Unternehmen funktionieren, müssen sie sich in irgendeiner Weise eine Ordnung geben. Am häufigsten bedienen sie sich dabei hierarchischer Gliederungen. Führungskräfte in meinen Seminaren lachen immer wieder lauthals auf, wenn sie hören, was das Wort Hierarchie in der Übersetzung eigentlich bedeutet.

 

Heilige Ordnungen in Unternehmen

Das Wort Hierarchie ist altgriechischen Ursprungs und bedeutet „heilige Ordnung“. Eine Hierarchie bezeichnet also Elemente, die einander über- und untergeordnet sind, wobei diese Ordnung "gottgewollt" ist. Hierarchische Unternehmensstrukturen sind in diesem Sinne also Ordnungen, die keinesfalls in Frage gestellt werden dürfen. Sie haben den Vorteil, dass – zumindest in der Theorie – immer jemand da ist, der die Verantwortung trägt. Wenn Konflikte nicht durch soziale Interaktion bereinigt werden können, so entscheidet die zuvor festgelegte Hierarchie, wer entscheidungsbefugt ist. Mit einem lakonischen Spruch von Führungskräften gesagt: "Dann sticht eben der Ober den Unter."

In größeren Organisationen sind Hierarchien mit konkret ausdifferenzierten Funktionen verbunden, welche die MitarbeiterInnen ausfüllen. Diese Funktionen sind in Jobprofilen definiert, welche die Beschreibung der Verantwortungsbereiche und Befugnisse des Funktionsinhabers beinhalten. Außerdem sind sie mit Kompetenzmodellen hinterlegt, mit deren Hilfe nötige Kenntnisse und Fertigkeiten dokumentiert werden sollen. Auch dies bringt Klarheit und Überblick, erfordert von den MitarbeiterInnen aber auch ein hohes Maß an Anpassung an ihre Jobbeschreibungen und ist ein wenig flexibles Modell für Veränderungssituationen.

Funktionale Hierarchien machen transparent, wer an wen berichtet oder wer im Falle von Differenzen oder Konflikten Entscheidungen treffen darf. Die Theorie dahinter ist, dass Entscheidungen durch einen hierarchisch legitimierten Machtträger rascher getroffen werden können, als dies zum Beispiel unter demokratischen Bedingungen der Fall wäre. Soweit die Intention.

 

Die Praxis zeigt oft ein ganz anderes Bild, wie mir eine Gruppe von engagierten jungen Nachwuchs-Führungskräften einer großen Dienstleistungsorganisation kürzlich wieder berichtet hat. Entscheidungen werden oft gar nicht getroffen, oder aber es entstehen zumindest lange Wartezeiten. Die engagierten jungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fühlen sich dadurch demotiviert. Zudem werden Entscheidungen oft durch Personen getroffen, die weit vom operativen Geschehen entfernt sind. Die Mitarbeiter verwiesen in diesem Zusammenhang darauf, dass Entscheidungen nicht selten auch von schlechter Qualität sind, weil zu wenig Zeit für die Diskussion der Konsequenzen verwendet wird.

Viele Organisationen wissen über die Nachteile dieser hierarchischen Führungsstrukturen Bescheid und versuchen hier auch gegenzusteuern. Selbstverantwortliches Handeln ist in den allermeisten Organisationen ein wichtiger Unternehmenswert. Unter dem Stichwort Empowerment ermutigen Unternehmensleitungen ihre MitarbeiterInnen zu verstärkter Übernahme von Verantwortung. Auch werden einzelne Entscheidungsbefugnisse in der Hierarchie weiter unten angesiedelt. Gelegentlich wird auch die Zahl der hierarchischen Ebenen reduziert, um die Informationswege abzukürzen.

Unternehmen tun all dies aber vielfach, ohne dass sie die hierarchischen Prinzipien selbst in Frage stellen. Seit einigen Jahren scheint sich dies allerdings zu ändern. Es gibt eine Reihe von Organisationen, die den Innovationsbegriff nicht nur auf ihre Produkte und Dienstleistungen beziehen, sondern auch auf ihre innere Gestaltung. Sie experimentieren mit der Gestaltung ihrer eigenen Strukturen und hinterfragen dabei alles - auch die funktionalen und hierarchischen Prinzipien der Zusammenarbeit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.


Beispiel 1: Buurtzorg


In der niederländischen Gesundheitsorganisation Buurtzorg arbeiten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Teams zu maximal zwölf Personen, die alle nötigen Entscheidungen für ihre Arbeit im Team treffen.

Die Teams haben weder eine unmittelbare Führungskraft noch gibt es übergeordnete Führungspersonen, welche die Arbeit mehrerer Teams steuern. Einzige formelle Ausnahme ist der Geschäftsführer. Als Gründer der Organisation initiierte er das Modell der Selbststeuerung. Dafür definierte er die ersten grundlegenden Prinzipien, greift jedoch nicht darüber hinaus in die Arbeit der Teams ein. Seit der Gründung, die 2006 in kleinem Rahmen erfolgte, ist Buurtzorg zur mittlerweile größten Pflegeorganisation in den Niederlanden mit 10.000 Mitarbeiterinnen angewachsen und funktioniert immer noch nach demselben Modell.

Die Teams haben ihren klaren Verantwortungsspielraum, sind jedoch netzwerkartig miteinander verbunden, um sich gegenseitig bei komplexen Fragestellungen beraten und unterstützen zu können. Zudem stehen für die Organisation ca. 40 Regionalberater- Innen und ein kleines Headquarter von nicht mehr als 30 Personen zur Verfügung, die alle nur auf konkrete Unterstützungsanfrage eines Teams hin tätig werden.

Buurtzorg wurde bereits in dieser Form gegründet.  Sein Gründer, Jos de Blok, wollte es – enttäuscht davon, wie seine damaligen Arbeitgeber  mit Patienten und Mitarbeitern umgingen –  ganz anders machen.

Die Tatsache, dass es sich bei Buurtzorg um eine Neugründung handelte, machte es in unternehmenskultureller Hinsicht etwas leichter. Es gab keine Führungskräfte, die ihre Position und den damit verbundenen Einfluss verloren. Sie zog und zieht auch gerade Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an, denen selbstverantwortliches Handeln wichtig ist. Die Arbeit in der Gesundheitspflege bringt es auch mit sich, dass die Arbeitsprozesse der Mitarbeiter einander relativ ähnlich sind. Es ist also verglichen mit anderen Organisationen, z.B. Krankenhäusern oder Banken mit ähnlich großer Mitarbeiterzahl wenig Koordination zwischen den Teams nötig, was diese Form der Unternehmensorganisation sicherlich erleichtert.


Beispiel 2: TELE Haase


An Leistungsprozessen orientierte Unternehmensstruktur
An Leistungsprozessen orientierte Unternehmensstruktur

Ganz anders war der Ausgangspunkt für Christoph Haase als er das Unternehmen seiner Familie übernahm. Haase übernahm als Sohn des Firmengründers ein Technologie-Unternehmen mit hohem Personaleinsatz. Die Produktionsstätte des Unternehmens befindet sich in Wien - und dies angesichts zahlreicher Mitbewerber aus Niedriglohnländern.

Haase selbst war, als er das Unternehmen übernahm, nicht wirklich darauf vorbereitet. Er sah sich überfordert mit den Bitten um Entscheidungen, die an ihn herangetragen wurden. Seine Experten erwarteten Entscheidungen von ihm, einfach weil er der Chef war. Haase erkannte, dass Chef zu sein allein, keine gute Grundlage dafür ist, Entscheidungen zu Sachverhalten zu treffen, bei denen sich auch die Experten nicht einig sind und begann sein Unternehmen zu transformieren.

Er entschied sich dafür, die Entscheidungsbefugnisse völlig zu ändern und die Hierachiepyramide zu entfernen. Der Innovationsanspruch, der für die Produkte von Tele Haase galt, sollte auch in der internen Organisationsgestaltung zum Tragen kommen. Das Unternehmen wurde konsequent prozessorientiert organisiert, die Entscheidungsbefugnisse  entsprechend der Prozesslandkarte gestaltet.

Jeder Mitarbeiter hat seither eine Grundrolle im Unternehmen, die einem Prozess zugeordnet ist. Jene Mitarbeiter, die in einem Prozess mitarbeiten, tragen in diesem Prozess auch die Verantwortung. Sie entscheiden entweder selbst oder wirken in entscheidungsberechtigten Leitungsgremien mit. Darüber hinaus kann man sich um weitere Verantwortungen bewerben, auch für die Rolle als Verantwortlicher für einen anderen (Teil-)Prozess. Entscheidungen fallen entweder durch die operativ tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oder demokratisch in Leitungsgremien. Prozessverantwortliche werden gewählt, die Mitglieder der Gremien ebenso. Meetings sind offen, Protokolle und Dokumente – mit wenigen Ausnahmen – für alle einsehbar.

Was jetzt gut funktioniert, hatte aber auch seine Schwierigkeiten. Vor allem das erste Jahr war unglaublich turbulent. Viele Führungskräfte, aber auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wollten diesen Weg nicht mitgehen, sahen keine Zukunft in einem solchen Modell und verließen das Unternehmen. Diese Schwierigkeiten scheinen überwunden. Bei einem Unternehmensbesuch vor einiger Zeit war ich durchaus beeindruckt von der Begeisterung der Mitarbeiter für diese Unternehmensstruktur. Auch wirtschaftlich stellt sich der Erfolg der Umstellung mittlerweile ein. Das Beispiel zeigt, dass die strukturelle Transformation einer Organisation hin zu mehr Mitarbeiterverantwortung durchaus große Herausforderungen und Risiken birgt. Immer häufiger scheinen derart radikal-innovative Ansätze der Organisationsgestaltung aber die passende Antwort auf stürmische Umfeldbedingungen sein.


Beispiel 3: SEMCO


Wolfgang Grilz diskutiert den Fall SEMCO
Wolfgang Grilz diskutiert den Fall SEMCO

Vier Jahrzehnte ist es nun her, dass ein 21jähriger Brasilianer, der bislang vor allem in Rockbands als Gitarrist seinen Unterhalt verdiente, das Maschinenbau-Unternehmen seines Vaters, eines gebürtigen Österreichers übernahm. Das Unternehmen war am Rande des Ruins, der junge Ricardo Semler voll mit Ideen und Drang nach Taten und Einflussmöglichkeiten, aber auch ein Hitzkopf, der an einem einzigen Nachmittag 60 % seiner Top-Manager entließ, weil sie nicht wollten, wie er wollte.

 

Unternehmen saniert - Gesundheit ruiniert?

Im Alter von 25 hatte Semler mit Hilfe einiger „Get Tough“-Manager das Unternehmen „Semco“ saniert und seine Gesundheit ruiniert, wie ihm Ärzte nach einem stressbedingten Zusammenbruch bescheinigten. Bald darauf erkannte er, dass es sich mit seinen MitarbeiterInnen ganz ähnlich verhielt. Das Unternehmen war zwar in der Gewinnzone, die Mitarbeiter jedoch ausgepowert und die Arbeitsplätze von unzufriedenen, unglücklichen und permanent überforderten Menschen besetzt, die wohl ebenso wenig wie er selbst ewig durchhalten würden. Die Fluktuationsrate wies bereits darauf hin.

Unter dem Einfluss von Peter Drucker, Michael Porter und Henry Mintzberg, vor allem aber nach der Begegnung mit Clóvis da Silva Bojikian, einem internen Management-Trainer bei Ford, änderte er radikal seine Ansichten über Unternehmensführung und in der Folge auch sein Unternehmen selbst. Bojikian war begeisterter Anhänger von A. S. Neills „Summerhill“, einer bereits 1921 gegründeten reformpädagogischen Schule. In dieser auf demokratischen Prinzipien basierenden Schule haben die Schüler weitest gehende Freiheiten und sind an zahlreichen Entscheidungen zur Leitung der Schule beteiligt.

Semler begann sein Unternehmen nach ähnlichen Grundwerten zu gestalten. Er kam zur Ansicht, dass er bislang Menschen eingestellt hatte, die außerhalb seines Unternehmens Regierungen wählten, Gemeindeprojekte leiteten, Familien gründeten und täglich zukunftsbezogene Entscheidungen zu fällen hatten, die damit verbundenen Kompetenzen in seinem Unternehmen jedoch bislang weitgehend ungenutzt waren. In einem Entwicklungsprozess wirkte er auf die Kultur seines Unternehmens ein, um dieses Kapital zu nutzen.

 

Das Ergebnis

Semco wurde zu einem Unternehmen,

  • das bei einer Zahl von mehreren Tausend MitarbeiterInnen in lediglich 3 hierarchischen Ebenen organisiert ist
  • dessen MitarbeiterInnen ihre Arbeitszeiten und Lohnschemata selbst festlegen
  • in dem die MitarbeiterInnen ihre Vorgesetzten selbst anstellen und beurteilen
  • in dem es überall Matten für kurze Nachmittagsschläfchen gibt
  • in dem es weder Organisations-Charts, noch Fünf-Jahres-Pläne oder ein schriftliches Leitbild oder andere schriftliche Regelwerke gibt (mit Ausnahme eines kurzen „Überlebens-Handbuches“ in Form eines Comic-Heftes)
  • dessen MitarbeiterInnen die Firmenleitung wählen
  • das eine Personalfluktuation von 2 % bei einem nationalen Branchenschnitt von 18 % hat
  • über 20 Jahre hinweg trotz schwieriger und häufig wechselnder politischer Bedingungen ein durchschnittliches Jahreswachstum von knapp 40% hatte.

In den letzten Jahren hat sich die SEMCO Gruppe zu einem assoziativen Netzwerk mit unterschiedlichen Partnern entwickelt, wodurch das Portfolio des ursprünglichen Maschinenbauers deutlich ausgeweitet und weiteres Wachstum möglich wurde.

Ricardo Semler selbst lehrte an mehreren amerikanischen Universitäten, ist Autor mehrerer Bücher, vielfach ausgezeichnet und geehrt, aber auch oft als Illusionist kritisiert und beispielsweise von der brasilianischen Industriellenvereinigung öffentlich der Unterminierung der Autoritätsposition von Managern angeklagt. In den letzten Jahren zog er sich zunehmend aus der Führung seines Unternehmens zurück, war in der Umweltschutzbewegung aktiv und widmete sich zahlreichen sozialen Aktivitäten.


Lessons learned


Wenn ich diese Geschichten erzähle, ernte ich trotz der zum Teil 40jährigen Erfolgsgeschichte derartiger Unternehmen immer wieder eine Portion Skepsis, ob ein derartige Systeme überhaupt funktionieren können. Zugleich aber auch Neugier, wie denn so etwas in der Praxis gestaltet wird. Mir zeigen die Beispiele, dass es viele Möglichkeiten gibt, Unternehmen erfolgreich zu führen. Die klassisch-hierarchische Form ist eine Möglichkeit, Buurtzorg, Tele Haase, Semco und viele andere Unternehmen zeigen andere Wege.

Natürlich lassen sich erfolgreiche Methoden eines Unternehmens nicht 1:1 auf ein anderes Unternehmen übertragen. Aber das ist auch das Spannende daran: den richtigen Weg für das eigene Unternehmen zu finden.